Central Hell Goddess 2

Kaum war Liam alleine, hatte er sich bequemere Kleidung angelegt und auf das bereitgestellte Bett gelegt, den Blick an die Decke gerichtet.
Jetzt, wo er für sich war, war die vorherige Gehässigkeit und die falsche Arroganz komplett verschwunden, und das einzige was in ihm übrig blieb war elende Leere. Er vermochte es nicht einmal, sich über Aimee zu ärgern - wo er vorhin noch voller Belustigung mit ihr gestritten hatte, war doch nur noch stumpfe Akzeptanz über sein Schicksal, welches er nicht zu ändern vermochte.
Es war fast so, als wäre Liams gesamtes Leben bereits niedergeschrieben wurden, bevor er überhaupt das Licht der Welt erblickte. Als Magier mit einem unnatürlich kraftvollen Mana war es ein selbstverständliches das er Thronerbe wurde, und natürlich wurden entsprechend seine Interessen und Hobbies darauf ausgelegt. Alchemie, Magie, Geschichte... Alles Dinge, die er nicht Mal mehr wusste ob er daran überhaupt jemals Freude empfand, oder ob er das nur stumm akzeptiert hatte, wie alles in seinem Leben.
Er hatte seine Zwillingsschwester heimlich bewundert. Nicht nur, dass sie viel mehr Zeit mit ihren Eltern anstatt irgendwelchen Tutoren und Hausmädchen verbringen durfte, nein, sie hatte auch noch das Glück sich selbst aussuchen zu können wer sie war oder was sie mochte. Liam hingegen hatte schon immer das Gefühl, er war nur da, um Erwartungen zu erfüllen; und alles, was davon übrig blieb war eine kaputte Person welche nicht einmal mehr wusste ob sie überhaupt einen eigenen Charakter hatte, unterhalb dieser Maske aus Arroganz und falschen Stolz.
Er seufzte. Hoffentlich würde das bald ein Ende finden, und er könnte zurück in seinem Alltag kehren, wo er brav alles erfüllte was man von ihm verlangte, ohne groß nachdenken zu müssen. Vielleicht waren diese Unruhen wirklich keine große Sache, und sie würden bald zurück ins Windreich kehren - zumindest hoffte er das. Wobei, war das wirklich so? Wollte er wirklich zurück nach Hause, zurück zu dem Ort, wo er mit jedem Atemzug den immensen Druck spürte der auf ihn lastete?  Wenn nicht, was wollte er stattdessen? Unabhängig sein, wie Amila, und einfach Tun worauf er Lust hatte? Doch worauf hatte er Lust? Er wusste es nicht, und er war sich nicht sicher ob er auf diese Fragen jemals eine Antwort erhalten würde.

Er war nichts weiter als ein Beobachter. Ein körperloses Wesen. Ein Geist. Seit die Götter ihn zu dem gemacht hatte, hatte er Jahre über Jahre hinweg für sie die Welt beobachtet, für sie über die Menschen gerichtet und hatte doch keinerlei Möglichkeiten, in das Weltgeschehen einzugreifen. Bis er eines Tages Nuira begegnet war, der ersten Person, die ihn hatte sehen können – die ihm einen Körper besorgt hatte… Und die kurze Zeit später verraten und verbannt wurde. Seine Strafe war ein Verlust dieses Körpers gewesen und eine Rückkehr in diese Rolle als Beobachter, doch dieses Mal suchte er sich selbst aus, wen er beobachtete und für wen er das tat.
Und das war niemand geringeres, als seine geliebte Nuira.
Bei ihrem letzten Treffen, was viel zu lange her gewesen war, hatte sie ihn darum gebeten die Zwillinge des Königspaares aus Winderia zu beobachten. Was sie in ihnen gesehen hatte, hatte sie ihm nicht gesagt, nur dass sie für diese Welt wichtig waren. Und Seth hatte ihr vertraut. Dass sie nur kurze Zeit später verschwinden würde, ohne dass er auch nur annähernd eine Spur über ihren Aufenthaltsort besaß, hatte er nicht erwartet. Nun war es bereits mehrere Jahre her, die er sie nicht hatte sehen können obwohl es ihnen einmal im Jahr eigentlich gestattet wurde, er an diesem Tag sogar einen Körper bekam.
Eine Zeitlang hatte er die Zwillinge problemlos beobachten können, doch seit er jene Person beim Blutmond gesehen hatte, jene Person, die Kontakt zu dem Mädchen aufgenommen hatte, hatte er entschieden, ehe den jungen Thronerben zu beobachten. Im Gegenzug dazu hatte er Ares berichtet, was er gesehen hatte. Mit seinen Assassinen würde er sich darum kümmern. Also hatte Seth entschieden, Liam ins Wasserreich zu folgen und ihn weiter unter Beobachtung zu behalten. Auch wenn er die meiste Zeit auf Abstand zu ihm ging.
Bereits als Kind hatte Seth den Eindruck gehabt, dass der Junge seine Anwesenheit spüren konnte. War sein MAna wirklich so stark, dass er nach Nuira die erste Person war, die dazu in der Lage war? Seth hatte schon länger darüber nachgedacht, wie er sich diese Eigenschaft zu Nutze machen konnte. Ob er ihn dazu überreden konnte, nach Nuira zu suchen? Er wusste, dass der junge nicht religiös war und anders als seine Schwester nichts einfach so für die Welt tun würde. Dennoch wollte Seth es versuchen. Schließlich hatte Nuira ihn auch nicht umsonst auf die Zwillinge angesetzt.
So war er ihm auch in gebührendem Abstand zu dem ihm zugewiesenen Gästezimmer gefolgt. Einen Vorteil hatte seine körperlose Gestalt dabei – nicht einmal Türen waren für ihn ein Hindernis, wenn er es so wollte. Dass der Junge jedoch nur regungslos auf dem Bett lag, tief in Gedanken, hatte ihn schließlich überrascht. Bis heute wusste er nie, was in seinem Kopf vorging, konnte in ihm nicht lesen oder dergleichen. Er war wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, das nach den Worten handelte, die darauf geschrieben wurden – die ihm vorgeschrieben wurden. Still fragte er sich, ob er wirklich der richtige war und ob er nicht vielleicht doch lieber auf das Mädchen hätte achten sollen. Aber nun war er hier und selbst für ihn war eine Rückkehr nach Winderia kein Leichtes. Also würde er sich die Zeit nehmen und abwarten, beobachten. Wie er es bereits über die Jahrhunderte, Jahrtausende tat.

Da war es wieder - diese Präsenz, diese schemenhafte Gestalt eines Mannes mit Flügeln, welche er seit Kindheitstagen wahrnehmen konnte. Früher hatte er noch versucht mit ihm zu sprechen, hatte es dann aber schnell wieder gelassen; seine Tutoren hatten mit ihm geschimpft und es als "kindische Fantasien" abgetragen, die sich nicht für einen künftigen König gehörten. Man sagte ihm, das würde mit den Jahren von selbst verschwinden - und doch war diese Präsenz immer da, beobachtete ihn.
Ob Liam einfach nur verrückt war und an Wahnvorstellungen litt, bereits als Kind schon?
Er haftete seinen Blick auf den Mann, emotions- und regungslos, und verweilte, versuchte die Schemen weiter auszuarbeiten, versuchte sich zu konzentrieren. Welchen Sinn dies hatte wusste er selbst nicht - aber wenn er schon wahnsinnig war, so wollte er seinen Wahnsinn besser visualisieren können.

Als Liam sich regte verharrte Seth für einen Augenblick. Auch wenn der Blick emotions- und regungslos war, so bemerkte er doch, dass die Augen des Kronprinzen auf ihn gerichtet waren. Versuchten, ihn auszumachen. Konnte er ihn wirklich sehen? Seth erinnerte sich daran, dass er als Liam noch klein war oft den Eindruck gehabt hatte, der Junge versuche mit ihm zu sprechen. Allerdings hatte er ihn immer ignoriert.
Er trat ein paar Schritte zur Seite und bemerkte, dass der Blick des Prinzen ihm folgte. Unauffällig, jeder andere hätte es nicht bemerkt. Erneut verharrte er in der Situation. Vielleicht war das der Moment… sollte er es wagen?
„Du kannst mich sehen“, stellte Seth schließlich fest.

Er war nicht Mal mehr überrascht, als der Mann plötzlich seine Stimme erhob. Anscheinend war Liam jetzt komplett verrückt gewesen - oder aber er traute seinem Gefühl was ihn sagte, es steckte mehr hinter dieser schemenhaften Gestalt.
"Und du kannst doch sprechen." Stellte er trocken fest. Er konnte einen Mann mit weißen, langen Haaren ausmachen, wenngleich er ihn noch nicht vollständig wahrnehmen konnte.
"Bist du ein Geist oder nur eine Wahnvorstellung?" Fragte er schließlich, wobei er sich komplett bescheuert dabei vorkam. So weit war es also schon. Er sprach mit Personen die wahrscheinlich nicht Mal wirklich da waren.

Seth lachte leise.
„Ein Geist trifft es vielleicht ganz gut“, antwortete er und setzte ein freundliches Lächeln auf. Er wusste nicht, wie viel Liam von ihm erkennen konnte, aber allein die Tatsache dass er sich mit ihm unterhalten konnte zeigte schon was für eine Kraft in dem jungen Prinzen steckte. Vermutlich war er tatsächlich der mächtigste Magier der heutigen Zeit, zwar noch weit entfernt von Nuiras Stärke, aber dennoch erstaunlich mächtig für die heutige Gesellschaft.
„Genau genommen kann man mich als einen göttlichen Gesandten bezeichnen“, erklärte er schließlich.

Diesmal war es Liam, welcher trocken lachte.
"Da bist du bei mir definitiv falsch. Ich halte nicht viel von den Göttern."
Die Situation war so seltsam, doch mittlerweile hatte der Prinz das Gefühl, die Gestalt klar und deutlich vor sich sehen zu können. Der Mann hatte weißes, langes Haar und gold schimmernede Augen, welche eine gewisse Weisheit auszustrahlen schienen.

„Das wusste ich bereits“, antwortete Seth, noch immer lächelnd. „Nur warum sollte ich dich belügen? Darin sehe ich keinerlei Grund.“
Er hielt kurz inne, wartete irgendeine Regung des Prinzen ab die – natürlich – nicht kam.
„Wobei ich selbst gestehen muss, dass ich schon lange nicht mehr mit den üblichen Göttern zusammen arbeite, aber das ist wohl eine andere Geschichte.“

Die Götter waren Liam egal. Wahrscheinlich müsste er sich glücklich schätzen, mit einen Gesandten reden zu dürfen, doch war es ihm irgendwie egal. Wie fast alles im Leben.
"Und was genau möchtest du von mir? Du beobachtest mich doch garantiert nicht aus Langeweile seit ich klein bin, oder?"

„Ich bin damit beauftragt, diese Welt zu beobachten“, stellte Seth klar, immer noch lächelnd.
„Aber tatsächlich wurde ich von einer mir wichtigen Person darum gebeten dich und deine Schwester im Auge zu behalten.“
Er überlegte kurz, welche Details er ihm mitteilen konnte, mitteilen durfte. Ihm selbst war nicht genau klar, was das Schicksal der Zwillinge war, das hatte selbst Nuira ihm nicht sagen können. Nur, dass sie darüber entscheiden würden, wie es in Zukunft mit der Welt, mit der Menschheit weiter gehen würde. Seth hatte allerdings nicht den Eindruck, dass Liam eine Person war, die diese Worte so leicht glauben würde, nicht zuletzt auch weil Seth selbst nicht genau sagen konnte, was ihre Aufgabe in dieser Welt war.

Zweifelnd sah Liam die Gestalt an. Wieso gerade ihn und Amila? Okay, er war angeblich der mächtigste Magier seit langem gewesen, aber war das ein Grund weswegen man gerade ihn beobachten sollte? Wobei, eigentlich war es ihm egal.
"Und bist du in den 18 Jahren zu irgendwelchen Erkentnissen gelangt?" fragte er schließlich sarkastisch, immernoch nicht sicher ob er seinem Verstand gerade trauen konnte.

Seth verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Blick ein wenig. Es überraschte ihn nicht, dass Liam diese Frage stellte. Schließlich war es nur ganz natürlich zu wissen, warum man beobachtet wurde.
„Nun, dass du der wohl mächtigste Magier der heutigen Zeit bist, steht ja wohl außer Frage“, sagte er schließlich, "sonst wären wir nicht in der Lage so wie jetzt zu reden.“
Er hielt kurz inne.
„Mehr kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Nur so viel, dein Schicksal und das deiner Schwester ist sehr stark mit der Zukunft dieser Welt verbunden.“

"Natürlich ist es das, ich werde immerhin König." erwiderte er, in seinem gewohnten arroganten Ton, welchen er automatisch anlegte, sobald es um seine Thronfolge ging.
"Aber etwas verstehe ich nicht, wieso redest du gerade jetzt mit mir? Du hättest mir schon als Kind antworten können, dann hätte ich mich nicht alle die Jahre wie ein Irrer gefühlt." Er lächelte verächtlich, wenngleich es sich schwer deuten ließ wem diese Verachtung galt: dem Engel oder ihm selbst.

Obwohl er ihn so verächtlich und arrogant ansah, blieb Seth ruhig. Vor Jahren schon hatte er seine Gefühle diesbezüglich abgelegt. Er war es so müde, diese Menschen zu sehen. Wenn er nicht wüsste, dass er ihn benötigen würde, würde er ihn jetzt einfach links liegen lassen. Und dennoch…
„Meinst du nicht, deine Lehrer hätten dich dann erst Recht als seltsam eingestuft? Ist dir dein Ruf nicht äußerst wichtig?“, fragte er ruhig.
„Außerdem warst du zu der Zeit noch nicht bereit für diese Aufgabe.“
Und er musste zunächst noch herausfinden, wer von den Zwillingen nun die wichtigere Rolle einnehmen würde, aber das war ein Detail, das Seth zunächst für sich behalten würde. Nicht zuletzt, weil er noch immer unschlüssig war, ob nun er oder Amila die Person war, von der Nuira konkret gesprochen hatte. Die das Schicksal der Welt entscheiden würde. Momentan war Liam für Seth die logischste Schlussfolgerung, schließlich hätte er die Macht dazu. Er würde bei Gelegenheit wohl mit Ares noch einmal Rücksprache halten müssen, um noch etwas über das Mädchen zu erfahren.

"Und über welche Aufgabe sprechen wir genau?" fragte er schließlich, seinen Blick immernoch auf die Gestalt vor sich fixiert.

Seth überlegte eine Weile und bewegte sich ein paar Schritte zurück, sodass seine Flügel in der gegenüberliegenden Wand verschwanden.
„Das alles zu seiner Zeit“, antwortete Seth mit einem mysteriösen Ton. „Zum jetzigen Zeitpunkt bist du nicht in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen.“ Erneut setzte er ein Lächeln auf, unwissend ob Liam es sehen konnte oder nicht.
„Bis dahin wünsche ich dir noch einen angenehmen Abend, Liam. Wir werden wohl in nächster Zeit öfter Kontakt zueinander haben.“

Als die Gestalt schließlich verschwunden war, ließ Liam sich resiginiert auf sein Bett zurück fallen.
War er nun wirklich wahnsinnig geworden? Und wieso hatten die Götter gerade Interesse an Ihnen? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Er beschloss, es erst einmal zu ignorieren - er hatte sowieso kein Interesse am Schicksal dieser Welt, geschweige denn an irgendetwas. Wahrscheinlich war es nur seine Übermüdung, oder sein Kopf spielte einen Streich mit ihm. Wobei er in Wahrheit wusste, das dem nicht so war. Immerhin hatte Liam schon immer die Fähigkeit, Sachen wahrzunehmen, die anderen verbogen blieben - und dieser Mann war nicht der erste, und gewiss auch nicht der Letzte. Nur war es das erste Mal, das er auch wirklich mit einer dieser Präsenzen gesprochen hatte.
Er seufzte entnervt. Es wäre wohl besser, das einfach abzutun, und für's erste zu schlafen. Letzten Endes war es Liam eh gleich, was passierte und was nicht, und welche Rolle er in diesem Stück spielte. Schließlich schien er ja diesbezüglich wirklich keine eigenen Entscheidungen treffen zu dürfen.

Vereinzelte Schneeflocken rieselten vom Himmel herab, als Aimee und Liam die Schlossmauern hinter sich ließen, begleitet von zwei Rittern, die ihnen nicht von der Seite wichen. Weder sie noch ihr Verlobter ließen sich dabei anmerken, wie viel Lust sie tatsächlich auf diesen Ausflug hatten. Es war nun eine Woche vergangen, seit Liam und seine Mutter ins Schloss gekommen waren. Fast täglich hatten sie und Liam zusammen Tee getrunken und sich dabei angegiftet, an guten Tagen auch nur angeschwiegen und kein Wort gewechselt.
Bis am heutigen Tag ihr Vater und Liams Mutter auf die grandiose Idee gekommen waren, dass sie ihm die Stadt zeigen sollte. „Damit ihr euch und die Stadt besser kennenlernt“, hatten sie gesagt. Sowohl Aimee als auch Liam hatten freundlich zugestimmt, wobei sie es, kaum dass ihr Vater aus dem Raum gegangen war, direkt bereut hatte. Was war schön an einem Tag in der Stadt mit ihrem Verlobten, den sie über alles hasste? Und der sie im Gegenzug ebenso hasste?
Sie seufzte um ihre schlechte Laune loszuwerden, als sie schließlich die Prachtstraße Artills erreichten. Die Architektur des Wasserreiches war seit jeher eine Meisterleistung der Magie und sie war sich sicher, dass selbst Liams wohlgelobtes Volk des Windes damit nicht mithalten konnte. Sämtliche Gebäude waren aus Eis geformt. Klar, neuere Gebäude hatten eine Basis aus Steinen bekommen, doch die Außenfassade war ein magisches Meisterwerk aus Eis, wer es sich leisten konnte ließ auch Eisbildhauer die Fassaden verschönern. Auf die Art erkannte man die Häuser der besser betuchten Bewohner Artills.
Die Prachtstraße, die direkt vom Haupttor der Stadt zum Schloss führte, war in der Mitte durch einen breiten Fluss getrennt. In regelmäßigen Abständen führten Brücken über diesen, die die Ost- und West-Seite der Stadt miteinander verbanden. Im Fluss selbst erkannte man kleinere Boote, die dafür genutzt wurden um Waren, vereinzelt auch Personen, durch die Stadt zu bewegen.
Die restlichen Straßen waren mit breiten Steinen gepflastert und vereinzelt mit Eis überzogen, damit man die Landwege auch mit Schlitten bereisen konnte – so wie ihre Gruppe es heute tat.
„Was sagst du, zu Artills Architektur? Schon beeindruckend, was wir mit Magie alles erreichen können, meinst du nicht?“, Aimee klang gespielt freundlich, hatte aber einen unterschwelligen, provokanten Unterton eingeschlagen.
Er würde die Tour doch eh nicht genießen, also konnte sie sie ihm auch noch so ungenießbar gestalten, wie möglich.

"Ich bin in der Tat zutiefst fasziniert." erwiderte er, und beschloss das Spiel mitzuspielen. Ja, es war schon imposant wie die Hauptstadt des Wasserreiches aussah - aber es hatte ihn nicht mehr oder weniger begeistert als andere Städte, die er bisher besucht hatte. Selbst wenn er versucht hätte, soetwas wie ein gewissen Grad an Begeisterung zu verspüren, es würde ihn dennoch unberührt lassen.
Also setzte er sein charmantestes Lächeln auf - das Lächeln, was Aimee an meisten an ihm hasste, denn sie erkannte die Falschheit dahinter. Nur verzichtete er diesmal auf ein gehässiges Kommentar. Vorerst.
"Ich frage mich wie Artill zu Zeiten des Papstes ausgesehen haben muss, wenn ihm wirklich gelungen wäre soweit vorzudringen. Viele hätten wahrscheinlich ihr Zuhause verloren."
Den letzten Part konnte er nicht lassen. Es war immerhin töricht ganze Gebäude auf magische Basis entstehen zu lassen - aber das zeigte natürlich die Arroganz des Wasservolkes, welche die Magie als selbstverständlich und gegeben ansah. Sie galten schließlich als das altmodischste aller Völker, was sich besonders in ihrem Fanatismus gegenüber der alten Gottheiten dieser Welt zeigte.
Unweigerlich musste Liam an den Engel denken - wenn er es irgendeinem dieser Bauern hier von seiner Begegnung erzählt hätte wären sie wahrscheinlich sogar dumm genug um ihn das wirklich abzukaufen, würden ihn sogar vielleicht als Heiligen betiteln. Zu schade das er nicht viel von den Göttern hielt, oder sich da wirklich für interessierte.
Er ließ seinen Blick unauffällig durch die Gegend schweifen, in der Hoffnung, explizit die Schemenhafte Gestalt irgendwo nochmal erblicken zu können - sofern es in einem fahrenden Schlitten überhaupt möglich war.

Aimee spürte Wut in sich aufsteigen, die sie allerdings gut verbergen konnte. Stattdessen erwiderte sie das Lächeln. Er wusste, wie er sie wütend machen konnte, mit Sicherheit tat er das mit Absicht. Also wandte sie ihren Blick ab und sah sich den ihr eigentlich wohl bekannten Blick auf die Stadt an.
„Nun, bei euch war es doch auch nicht anders oder? Viele Leute hatten nach dem Tod der vorherigen Königin ihr Zuhause verloren, nicht wahr?“ Sie hielt kurz inne. „Der Vorteil an unserem Baustil ist, dass die Magie nur zum Bau selbst benötigt wird. Im Anschluss sind die Gebäude für die Ewigkeit festgehalten.“
Egal was er von ihrem Volk hielt, er sollte begreifen dass ihre Architektur nicht so zerbrechlich wie die Technologie des Windvolkes war. Hatten sie nicht vieles verloren, nachdem die Magie abgeschwächt worden war? Das würde bei ihrer Heimat nicht verlieren. Kein Gebäude würde in sich einstürzen, nur weil die Magie verschwand. Klar, sie würden einen Teil ihres Zaubers verlieren, vielleicht die Farbe oder den Glanz, aber sie würden nicht vollständig einstürzen.
„Prinzessin“, einer der beiden Ritter war auf einer Höhe zu ihr zurückgefallen und sah sie an. „Wo wünscht ihr die Reise fortzusetzen?“
Aimee überlegte kurz. Welchen Ort könnte Liam wohl am meisten beeindrucken? Sie bemühte sich, kein freches, ja fast schon gehässiges Grinsen aufzusetzen.
„Lasst uns den Weg zu den großen Tempeln einschlagen“, sie sah im Augenwinkel zu ihrem Verlobten. „Ich bin mir sicher, Liam interessiert sich brennend für unsere Religion.“

"Oh, nichts lieber als das." Erwiderte Liam sarkastisch lächelnd, wohlwissend das es nur Provokation ihrerseits war.
Selbst wenn es die Götter geben würde - was ja aller Anschein nach der Fall war - so war Liam der Meinung das blindes Vertrauen in sie die Menschen nur faul machte. Was nützen Gebete wenn sie doch unerhört blieben? Oder, was vielleicht noch schlimmer war, ignoriert? Verdienten solche Gottheiten wirklich eigene Tempel und all die Verehrung, die das Wasserreich ihnen schenkte? Immerhin hatten sich alle anderen Länder auch von ihnen abgeschworen.

Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
„Oh, ich wusste, dass du begeistert sein würdest, wirklich.“
Den Blick wieder nach vorne gerichtet plauderte sie weiter: „Du wirst schon sehen, die Tempel sind das Herzstück dieser Stadt, einer prachtvoller und schöner als der Andere!“
Der Ritter neben ihr warf ihr einen zweifelnden blick zu und schloss dann wieder zu seinem Kollegen auf, der voran ging. Hatte Aimee übertrieben? Nun, jetzt war es auch egal. Vielleicht würde ihr Vater dadurch auch verstehen, dass diese Verlobung keine gute Idee war.
Bei einer großen Gabelung wurde der Schlitten dann in eine der großen Seitenstraßen geführt. Die Straße selbst ähnelte der Prachtstraße, nur mit dem Unterschied dass der Kanal hier ein wenig schmäler war als die Hauptstraße. Aimee wurde jedoch stutzig, die Straße war ungewöhnlich wenig besucht. Normalerweise drängelten sich die Gläubigen oft vor den prachtvollen Tempeln mit ihren Eisskulpturen verschiedener Heiliger, deren Namen über die Jahre hinweg leider vergessen wurden. Dennoch war der Anblick jedes Mal aufs Neue prachtvoll, nicht zuletzt weil sie hier die göttliche Kraft regelrecht spüren konnte. Von allen Orten in Artill war diese Straße mit Abstand ihre liebste.

Liam betrachtete die Tempel mit einem gewissen Desinteresse. Ja, sie waren bestimmt beeindruckend und aufwändig, aber trotzdem ließ es ihn überraschend kalt - den einzigen Gedanken den er diesbezüglich hatte war, das es eine unnötige Ressorcenverschwendung war.
"Ich bin zutiefst beeindruckt." log er lächelnd. Er fragte sich, was sie mehr verärgern würde - wenn er stumpf die Wahrheit sprach oder seine Falschheit. So oder so, sie waren nicht alleine. Demnach würde er sich nie im Leben erlauben sich gegen Atrills größtes Heiligtum, geschweige denn in irgendeiner Form gegen die Gottheiten zu sprechen; nicht, solange noch andere in Hörweite waren. Schließlich sollte keiner wissen was für ein Nihilist Liam in Wirklichkeit war.

Sie bemerkte seine Lüge. Natürlich würde ihn das nicht beeindrucken, warum auch? Ihres Wissens nach war das Volk des Windes ein Volk von Wissenschaftlern, hatten die alten Religionen schon längst fallen gelassen. Eine Schande eigentlich, schließlich waren die Götter nach wie vor präsent. Zumindest die echten Götter, nicht jene, die vom Papst gepredigt wurden. Jene Götter, die ihnen die Magie geschenkt hatten, die ihnen die Kräfte über die Elemente gaben…
„Haltet den Schlitten an“, bat sie schließlich, als sie einen besonders imposanten Tempel erreichten.
Sie sah zu Liam, lächelnd. „Was wäre eine Stadt-Führung ohne einen Besuch im größten Tempel Artills? Ich hoffe das ist auch in deinem Interesse?“

Der Schlitten kam zum stehen, und obwohl Liam innerlich seufzte, so setzte er doch sein charmantestes Lächeln auf.
"Ich kann es kaum erwarten." erwiderte er schließlich, und verließ als erstes den Schlitten, nur um seiner Verlobten - aus reiner Gehässigkeit, und weil es die Etikette verlangte - ebenfalls rauszuhelfen.